Montag, 29. April 2024

"Ein seltsamer religiöser Fanatismus, der auf Menschenopfern beruht"

Ein klassische Bild des Wilden Westens, dass auch in der Frühzeit des Western-Films bereits auftaucht - der Stummfilm-Western "Hell's Hinges" aus dem Jahre 1916 von und mit Western-Legende William S. Hart fällt mir spontan als Beispiel ein - ist das Bild des Priesters, der an der Frontier düstere Predigten über das Alte Testament und einen zürnenden Gott hält und der vor drohenden, fast schon apokalyptischen Zuständen warnt - und die Jahre während und nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, der die Nation lange Zeit gespalten hat, haben mit Sicherheit einige solcher Beispiele hervorgebracht. Das Klischeebild hat sich bis in die heutige Zeit erhalten, auch jenseits des Films: Das Rollenspiel-System Deadlands, ein Wildwest-Setting gespickt mit übernatürlichen und Horror-Elementen (und vielleicht wenig überraschend eines unserer beliebtesten RPG-Settings) hält ebenfalls das Beispiel eines Feuer-und-Schwefel predigenden Priesters hervor. Wie in Rollenspielsystemen üblich wird dieses Trope gerne auch mit dem Fantasy-Archetypen des "falschen Priesters" kombiniert, der statt mit göttlichen mit dämonischen Mächten im Bunde steht, und der statt Hoffnung Angst, Schrecken, Angst und finstere Motive in die Herzen seiner Gemeinde sät. Aber letzteres ist meist nur reine Erfindung, ein Bösewicht für Roman- und Filmhelden, den es zu bezwingen gilt... nicht?

Umso erstaunter war ich über diesen Beitrag der texanischen Zeitung "The Galveston Daily Newspaper" vom 21.4.1881, der geradewegs aus einem Deadlands-Abenteuer oder einem Western-Horror-Film zu entsprungen scheint. Demnach wurde bei Little Rock in Arkansas, an einem Baum in einem entlegenen Wäldchen aufgeknüpft, die Leiche eines Predigers gefunden, der von wohl sechs Männern gelyncht worden war. Dieser Reverend Matlock war aber offenbar eine sehr berüchtigte Gestalt: Ein Prediger, der "eine seltsame Mischung aus Fanatismus, Bigotrie und Aberglauben" verbreitete und seine Gefolgschaft zum Vergießen menschlichen Blutes aufforderte, um den "Zorn einer beleidigten Gottheit" zu besänftigen, und in deren Namen wohl auch mehrere schauderhafte Morde begangen wurden!  

Quelle: Texas Digital Newspaper Program in The Portal to Texas History. University of North Texas Libraries. accessed April 29, 2024


Todgesagte leben länger: "Davy Crockett ist tot/am Leben/ein Geist"

 Davy Crockett gilt heutzutage als einer der großen amerikanischen Helden in der fast schon legendären "Schlacht von Alamo". Doch wie wir bereits in unserer Folge zu den "Helden von Alamo" ausgeführt haben, war das in den Monaten unmittelbar vor der Schlacht in weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung alles andere als der Fall. 

Da er gerne im Wahlkampf bei Bühnenshows über abenteuerliches Frontier-Leben erzählte, machten sich Zeitungen gerne über seine Ambitionen lustig und bezeichneten ihn gerne als einen "Buffoon", also einen Blödmann, Clown oder billigen Possenreißer. Politische Gegner konnten es offenbar kaum erwarten, dass Crockett endlich sein Versprechen wahrmachte, im Falle einer Wahlniederlage nach Texas zu gehen, und dass die einzige Konsequenz daraus sei, dass Shows und Menagerien für einige Zeit weniger stark besucht werden würden. 

Doch einige gingen sogar noch einen Schritt weiter: Einige Zeitungen, wie hier der North Carolina Standard, verbreiteten bereits kurz nach Davy Crockett's Aufbruch nach Texas Meldungen, dass er dort seinen Tod gefunden hätte. Der Tonfall ist dabei alles andere als heroisch-schmeichelhaft: "Colonel Davy Crockett, der 'Congressional whig Buffoon', ist kurz nach seinem Eintreffen in Texas gestorben" heißt es hier am 3. März 1836 - ironischerweise nur wenige Tage, ehe Crockett in der Schlacht von Alamo tatsächlich sein Leben ließ!


Quelle: Chronicling America - Library of Congress

Nach der dramatischen Schlacht jedoch, in der eine Minderheit von Amerikanern einer je nach Quelle zehn- bis zwölffachen Übermacht mexikanischer Soldaten trotzte und am Ende bis auf den letzten Mann hingerichtet wurden, wandelte sich das Bild jedoch komplett: In Erinnerung an seine Frontier-Abenteuer wurde der Mann zu einem echten Helden erklärt, zu einer amerikanischen Legende. Und wie es legendäre Menschen es häufig an sich haben, sterben sie selten einen wirklichen Tod, sondern haben möglicherweise auf wundersame Art doch überlebt: 

The Staunton Spectator, Staunton (Virginia), 5. Mai 1836. Quelle: Rarenewspapers.com

Über das wie lässt sich zwar streiten, doch dass Davy Crockett in Fort Alamo seinen Tod fand ist heute unbestritten. Aber ein legendärer Status geht weit über den Tod hinaus, und Jahrzehnte später finden sich in Zeitungen schließlich Berichte, dass Davy Crockett nun als Geist in den Gemäuern dieses historischen Ortes haust -  Gerüchte, die sich bis heute übrigens halten.

SanAntonio5-27-93
SanAntonio5-27-93 27 May 1893, Sat The Cincinnati Enquirer (Cincinnati, Ohio) Newspapers.com

Montag, 22. April 2024

"Der 'Mother Hubbard' muss verschwinden!"

An dieser Stelle greifen wir einen Modetrend auf, den wir am Rande unserer Podcast-Folge zum Johnson County War einmal in einem kleinen Exurs angesprochen hatten.

 Immer wieder kommen Modetrends auf, die für einen moralischen Aufschrei in Teilen der Gesellschaft sorgen: Zu unzüchtig! Zu aufreizend! Skandalös! Im modernen Zeiten sind es meistens zu figurbetonte oder viel Haut zeigende Kleidungsstücke die solche Reaktionen hervorrufen. Da mag es aus moderner Sicht befremdlich wirken, welche Art Kleid in den 1880er Jahren, vor allem in Regionen des Wilden Westens, für Furore sorgte: Das so genannte "Mother Hubbard" Kleid!

Pictures of Mother Hubbard gownsPictures of Mother Hubbard gowns 03 Feb 1889, Sun The Wichita Eagle (Wichita, Kansas) Newspapers.com

Blue cotton calico dress of Elizabeth Hinterleiter Keesacker, a Virginia native who moved to St. Louis in the early 1800s. Image Courtesy of the Missouri Historical Society, St. Louis.

Während die übliche Frauenkleidung jener Zeit auf eng taillierte (mit Korsett getragene) Kleider Wert legte, die mit Unterröcken und Tornüre zur besonderen Absetzung des Pobereichs getragen wurden, lief der Mother Hubbard diesem Trend zuwider: Es war ein bewusst nicht figurbetontes, langes, weites und locker sitzendes Kleid mit langen Ärmeln und hohem Halsausschnitt, und sollte tatsächlich so viel Haut wie möglich bedecken. 


Kleidungsstücke dieser Art gab es auch vor den 1880er Jahren bereits und wurden meist von Frauen während der Hausarbeit eingesetzt. Aber in der genannten Dekade erlangte das Kleid (das seinen Namen von einem Buch mit Kinderreimen namens "Old Mother Hubbard" bekam, in dem Mädchen mit Kleidern in diesem Stil illustriert waren) auch unter jungen Frauen Popularität, die die Bewegungsfreiheit und Luftigkeit dieses Kleidungsstils, gerade in heißeren Gegenden, sehr zu schätzen wussten. 

Das erregte allerdings den Unmut und moralische Entrüstung - vor allem von Teilen der männlichen Bevölkerung. Manche - überwiegend männliche - Kommentatoren brachten ihre Entrüstung über das Unweibliche Erscheinungsbild von Frauen in diesem hässlichen, sackartigen Gewand - "All Skirt, no waist", wie es der Schreiber des folgenden Artikels ausführt - zum Ausdruck: 

Mother Hubbard dress criticizedMother Hubbard dress criticized 02 Nov 1883, Fri The Leavenworth Standard (Leavenworth, Kansas) Newspapers.com

In unserem Podcast zum Johnson County War erwähnten wir, dass in Johnson County (speziell am Gerichtsstand in Buffalo) um das Jahr 1889 mutmaßliche Viehdiebe mit milden Strafen davonkamen, während das Tragen eines Mother Hubbard Kleides in der Öffentlichkeit mit bis zu 20$ bestraft werden konnte. Auch andernorts, beispielsweise in Kentucky, gab es Bußgelder für das öffentliche Tragen eines solchen Kleidungsstücks:

5$ fine for wearing a Mother Hubbard5$ fine for wearing a Mother Hubbard 18 Apr 1884, Fri Chicago Tribune (Chicago, Illinois) Newspapers.com

Auch kam es durchaus zu Verhaftungen wegen des öffentlichen Tragens eines Mother Hubbards:

Arrests of women wearing Mother Hubbard dressesArrests of women wearing Mother Hubbard dresses 12 May 1887, Thu Omaha Daily Bee (Omaha, Nebraska) Newspapers.com

Auch an Spott und anderen herablassenden Kommentaren mangelte es nicht: 

Men must have really hated the Mother Hubbard dress - comfortable for women!Men must have really hated the Mother Hubbard dress! 14 May 1886, Fri The Abilene Journal (Abilene, Kansas) Newspapers.com

Aber was genau störte die männliche (oder Teile der weiblichen) Bevölkerung an diesem Kleid? Ein Kommentator des Coffeyville Journals (Coffeyville, Kansas) brachte es, stellvertretend für andere ähnliche Beiträge, in einem Artikel auf den Punkt: Es sah zu sehr nach einem reinen Unterrock oder Nachthemd aus; "Junge Mädchen", die dieses Kleid trügen, sähen darin so aus, "als hätten sie vergessen, sich anzuziehen, nachdem sie morgens aus dem Bett aufgestanden sind"!

EDitor's comment on Mother Hubbard dressEditor's comment on Mother Hubbard dress 28 Jul 1883, Sat The Coffeyville Weekly Journal (Coffeyville, Kansas) Newspapers.com

Weniger freundlich klang in solchem Zusammenhang der Vorwurf, Frauen würden in einem solchen Kleid wie Prostituierte aussehen (die solche Kleider wegen der Einfachheit des An- und Ausziehens bevorzugen würden; interessant, dass in den 1880ern das Bild vorzuherrschen schien, dass das Tragen eines WENIGER figurbetonten Kleides eher leichten Mädchen zugeschrieben wurde); das Tragen eines solchen Kleides wäre gewissermaßen Erregung öffentlichen Ärgernisses, und junge Damen würden "nur" deswegen verhaftet, um entsprechende unliebsame Avancen angehender Freier vorzubeugen.

Dodge City Times, Kansas, Juli 1883

All diese Kommentare lassen dabei den eigentlichen Grund außer Acht, warum Frauen ein solches - nicht figurbetontes, lockeres, den ganzen Körper bedeckendes - Kleid entgegen der Modetrends der damaligen Zeit überhaupt haben möchten: Es war, schlicht und ergreifend - bequem und angenehm zu Tragen - ganz ohne Notwendigkeit für Korsetts, Tornüren oder mehrere Lagen an Unterröcken!

The joy of the corset-free Mother Hubbard dressThe joy of the corset-free Mother Hubbard dress 12 Sep 1889, Thu The Wichita Weekly Journal (Wichita, Kansas) Newspapers.com
In den 1890er Jahren verschwanden die Debatten um das Mother Hubabrd Kleid wieder aus dem öffentlichen Diskurs. Interessanterweise haben sich Kleider im Mother-Hubbard-Stil dagegen auf einigen Pazifikinseln bis heute gehalten! Eingeführt wurden die Ganzkörper-Röcke dabei interessanterweise ausgerechnet von christlichen Missionare - um die in westlichen Augen zu aufreizende Blöße der "halbnackten" Insulaner zu bedecken!

Tahitian girls in mother Hubbard dresses. various, Public domain, via Wikimedia Commons


Mittwoch, 17. April 2024

"Statistisches über Texas"

 Denkt man an den "Cowboy-Staat" Texas, denkt man zuallererst an riesige Rinderherden, an Viehtrecks, die Open Range, und an wilde Pferde. Das alleine sagt aber wenig darüber aus, wie die Wirtschaft im "Wildwest"-Texas wirklich aufgestellt war. Wieviele Rinder gab es denn genau in Texas, wie viele Pferde wurden gezüchtet, und mit welchen texanischen Waren wurde sonst so gehandelt?

Darum freut es mich immer, beim Durchstöbern alter Zeitungen aus der Wild-West-Ära auf Artikel wie diesen zu stoßen Die deutschsprachige "Freie Presse für Texas" aus San Antonio veröffentlichte am 21. April 1881 unter dem Titel "Statistisches über Texas" Auszüge aus einer Broschüre, die "Der Präsident der südwestlichen Einwanderungscompagnie von Texas, Wm. W. Lang", zusammengestellt hatte. In ihr hatte Mr. Lang diverse Zahlen, Fakten und Daten über die texanische Wirtschaft zusammengestellt, darunter unter anderem auch diese Liste für das Jahr 1878:


Quelle: Texas Digital Newspaper Program in The Portal to Texas History. University of North Texas Libraries. accessed April 17, 2024

Demnach war auch 1878 noch Baumwolle das wertvollste Exportgut; "die ganze Welt consumiert  [sic]ungefähr 12.000.000 Ballen Baumwolle jährlich," schreibt die Freie Presse. "Diese gesamte Summe könnte auf 19.000 Quadratmeilen in Texas gezogen werden. Das Areal von Texas beträgt 274.356 Quadratmeilen". Worüber sich der Beitrag ausschweigt (wohl um potentielle Einwanderer nicht zu verschrecken) ist, wie viel von dem Areal auch für den Anbau von Baumwolle geeignet ist. Baumwollplantagen waren in der Tat ein wichtiger Teil der texanischen Wirtschaft, doch fast nur die nördlichen Regionen des Staates eigneten sich auch dafür.

Natürlich dürfen die Rinder und Pferde nicht unerwähnt bleiben: Demnach befänden sich in TExas zu der Zeit geschätzt 4.464.000 Rinder in einem Wert von 39.640.320$ in Texas. Pferde sind in den Exportstatistiken eher gering, was laut Zeitung daran läge, dass "Die guten Pferde [...] in Texas selbst verbraucht [werden].". Mit 963.000 Tieren in Texas gäbe es nur einen Staat der Union, der diese Zahl noch überbietet: Illinois! Das mag im ersten Moment überraschen, aber Illinois galt als das Herz der amerikanischen Rennpferdezucht, der Staat benötigte für seine zu diesem Zeitpunkt sehr fortgeschrittene Industrialisierung zahlreiche Arbeitspferde für Transporte und dergleichen, und zu diesem Zeitpunkt mit Oaklawn Farm die größte Pferdezucht der Welt in Illinois.

Doch eine andere Tierart sollte Pferde und auch Rinder 1878/79 in Texas weit übertreffen: Schafe!

Quelle: Texas Digital Newspaper Program in The Portal to Texas History. University of North Texas Libraries. accessed April 17, 2024

Ja, Schafe! Waren 1860 noch weniger als 800.000 Schafe in Texas gezogen worden, schwoll deren Zahl bis zum Jahr 1879 auf 5.148.700 Tiere an! "Jetzt ist Texas der zweit[größt]e Wollzüchterstaat der Union", schreibt die Freie Presse; nur in Kalifornien (7.646.800) gäbe es zu diesem Zeitpunkt noch mehr Schafe. Um 1880 herum hatte sich der große Rinderboom merklich abgekühlt, und Texas bekam das als einer der ersten Staaten deutlich zu spüren. Schafe waren im Vergleich zu Rindern leichter auf engerem Raum zu halten, warfen mit Wolle ein Ertragsprodukt ab ohne sie schlachten zu müssen und vermehrten sich schneller; während gerade in den späten Jahren des Rinderbooms nur noch reiche, große Rancher sich einträgliche, riesige Herden leisten konnten, war es für weniger gut betuchte Siedler (und auch einige umsattelnde Viehzüchter) einfacher, auf Schafzucht zu setzen. Das ging nicht immer reibungslos vonstatten und sollte in den kommenden Jahren in den sogenannten "Sheep Wars" gipfeln; dazu erzählen wir aber ein anderes Mal mehr.

Freitag, 12. April 2024

"I'll be d*mned if I could find a law against killing a Chinaman!"

 Judge Roy Bean war ein sehr illustrer und weit über die Regionen seiner Tätigkeit bekannter - wenn nicht sogar berüchtigter - Friedensrichter. Wie wir bereits in unserer Podcast-Folge zu Judge Roy Bean ausgeführt haben, wurde der Mann, der "das Gesetz westlich des Pecos" vertrat, in den etwa 20 Jahren seine Wirkens im ganzen Land bekannt für seine eigenwillige Auslegung des Gesetzes, seine blitzschnellen Verhandlungen und seine oft bizarr anmutenden Urteilssprüche.

Eine der bekanntesten Anekdoten zu Roy Bean handelt von einem ermordeten Chinesen. Der Täter - in den meisten Versionen der Geschichte als ein irischer Arbeiter einer Eisenbahn identifiziert - landete bei Roy Bean vor Gericht. Roy Bean konsultierte sein Gesetzbuch und setzte schließlich den Täter auf freien Fuß; er könne keine Stelle im Gesetzbuch finden wonach es verboten sei, einen Chinesen zu töten.

Auch im englischsprachigen Wikipedia-Beitrag zu Roy Bean taucht diese Anekdote auf - allerdings um zahlreiche Details ausgeschmückt und erweitert. So wird der Täter nicht nur als irisch identifiziert, sondern erhält auch noch einen Namen (Paddy O'Rourke); und er soll 200 Gefährten dabei gehabt haben, die Roy Bean androhten in zu lynchen, wenn ihr Kumpel nicht freigelassen werden würde, was der Grund für Roy Bean's schnelles Urteil gewesen sein soll. Im Podcast drückte ich meine Zweifel darüber aus, dass diese Version der Geschichte stimmen könnte. Zum einen waren hierfür mehrere Quellen angegeben, die aber entweder als unzuverlässig galten oder die Details nicht bestätigten. Und die einzige alte Zeitung, die als Quelle aufgeführt war, lieferte sogar widersprüchliche Angaben. Tatsächlich konnte ich die Geschichte in wirklich Dutzenden Zeitungen finden, die verschiedene Erzählungen des "Chinesen-Mordes" widergaben - und in keiner einzigen Version tauchte der Name "Paddy O'Rourke" oder die Präsenz von 200 Iren auf. Was nicht heißen soll, dass die Geschichte nicht damals bereits diverse Mutationen durchgemacht hat. Anhand der Beiträge lässt sich schön sehen, wie aus einer kurzen Randbemerkung im Laufe der Jahre ein Mythos mit fast epischen Zügen erwachsen kann...

Quelle: Texas Digital Newspaper Program in The Portal to Texas History. University of North Texas Libraries. accessed April 12, 2024

Die früheste Erwähnung die ich finden konnte - was nicht heißen soll das es die erste war, nur die älteste von der ich aktuell weiß - stammt vom 2. Juni 1884, nur knapp zwei Jahre nach Bean's Berufung zum Friedensrichter. Der Beitrag in der Zeitung El Paso Daily Times ist nur eine zehnzeilige Randnotiz über "das neueste von Roy Bean"; zu diesem Zeitpunkt waren Leser der Zeitung offenbar bereits daran gewohnt, immer wieder neue Kuriositäten von ihm zu hören. Die Nachricht enthält kaum Details - jemand habe "einen Chinamann getötet" (noch nicht einmal die Eisenbahn wird hier erwähnt), aber der Urteilsspruch ist bereits der bekannte: Nachdem er zwei oder drei "zerfallende Gesetzesbücher von vorn bis hinten durchgeblättert" habe, ließ er den Täter frei mit den Worten, er wolle verdammt sein wenn er irgendein Gesetz finden könne das es verbiete, einen "Chinamann" zu töten.

Das sollte aber nicht das Ende der Geschichte sein, denn je weiter wir uns von dem ersten Vorfall entfernen, umso detailreicher - und bunter - werden die Schilderungen...

A version of the Roy Bean story about the murdered Chinaman
A version of the Roy Bean story about the murdered Chinaman 01 Nov 1887, Tue The San Francisco Examiner (San Francisco, California) Newspapers.comAm 1.11.1887 druckte der "San Francisco Examiner" ebenfalls eine Variante der Geschichte ab; wobei es sich hierbei angeblich um eine Übernahme aus einer Londoner Zeitung (London Spectator) handelt. Unter der Überschrift "Western Life - How a Cowboy Justice of the Peace Administered the Law" werden aus der Perspektive eines - mutmaßlich englischen - Reporters bereits mehrere Anekdoten über Roy Bean zusammengefasst, darunter auch die erwähnte Geschichte. Interessanterweise taucht hier erstmals das Gerücht auf, Roy Bean könne nicht (gut) schreiben. Das Detail über die Eisenbahn oder einem mutmaßlich irischen Täter fehlt noch immer. Dafür hat das chinesische Opfer hier einen Namen - "Li Hung". Als Roy Bean diesen hört, lässt er den Täter frei mit der Begründung, man könne in Gesetzbüchern nichts über das Töten von Chinesen finden. Interessanterweise muss er hier nicht einmal in den Büchern blättern...

Quelle: Texas Digital Newspaper Program in The Portal to Texas History. University of North Texas Libraries. accessed April 12, 2024
Hier ist eine andere Variante der Geschichte, gefunden im Halletsville Herald (Texas) vom 25.2.1891. In dieser Version der Geschichte wird zwar die Eisenbahn erwähnt, aber nur in der Form, dass der Vorfall sich kurz nach deren Eintreffen in der Gegend ereignete. Der Täter trägt noch immer keinen Namen (oder Nationalität), das Opfer hat ebenfalls den Namen verloren, dafür gibt es nun einen Tatort: Jemand habe den "Chinamann" IN Roy Bean's Saloon getötet!

Roy Bean's Law
Roy Bean's Law 28 Aug 1897, Sat El Paso Herald (El Paso, Texas) Newspapers.com

Am 28. August 1897 - 15 Jahre nach Roy Beans erster Berufung zum Friedensrichter, und 13 Jahre nach der ersten von uns gefundenen Erwähnung der Geschichte - fasste der El Paso Herald (nicht zu verwechseln mit der vormals erwähnten El Paso Daily Times) zahlreiche Anekdoten von und über Roy Bean in einem langen Artikel zusammen, darunter auch diese Geschichte. Demnach habe der Chinese einen Vormann der Eisenbahn attackiert, worauf dieser den Mann erschossen habe. Der Vormann wurde zu Roy Bean zur Anhörung gebracht, und 100 Eisenbahnarbeiter kamen ebenfalls in den Saloon. Roy Bean, der ein gutes Geschäft witterte, zögerte die Anhörung auf den nächsten Tag hinaus, ehe er dann den schnellen Urteilsspruch lieferte. Immer noch werden keinerlei Namen genannt, und auch von einem Iren ist keine Rede, aber eine Menge von 100 Eisenbahnarbeitern ist erwähnt (aber nicht 200 wütende, lynchfreudige Kerle). Nach allem, was ich so über Roy Bean erfahren habe, halte ich diese Schilderung noch am plausibelsten - Roy Bean wirkt in anderen Schilderungen nicht wie jemand der sich leicht einschüchtern ließ, aber an 100 Eisenbahnarbeiter so viele Getränke wie möglich auszuschenken passt sehr zu den sonst so üblichen Geschichten über ihn...

Quelle: Texas Digital Newspaper Program in The Portal to Texas History. University of North Texas Libraries. accessed April 12, 2024

Hier ist noch eine interessante Variante der Geschichte, ebenfalls aus dem Jahr 1897 (3.11.1897 um genau zu sein), aus der Galveston Tribune (Texas), wohl übernommen aus einem Leserbrief an den Chigaco Times-Herald. Der Erzähler schildert, dass er in seiner Zeit bei der Eisenbahn von einem anderen chinesischen Eisenarbeiter angegriffen wurde, und ein Depotangestellter der Eisenbahn diesen daraufhin erschoss. Sie gingen zum zuständigen Richter - Roy Bean - der Ihnen darlegte, dass das schon MINDESTENS DAS ZWEITE MAL sei, dass er über so etwas geurteilt habe, und das es eben kein Gesetz hinsichtlich des Tötens eines Chinesen gäbe. Interessant ist hier vor allem ein weiteres Detail, das ich sonst nirgendwo gefunden habe: Roy Bean habe den ersten Täter freigesprochen, aber zu einer Strafe von 10 Gallonen Schnaps verdonnert - weil er mehr als einmal schießen musste!

Quelle: Texas Digital Newspaper Program in The Portal to Texas History. University of North Texas Libraries. accessed April 12, 2024

Im "Stephenville Empire" vom 7. Dezember 1899 wird die Schilderung noch einmal so richtig bunt. Das chinesische Mordopfer hat nun wieder einen Namen, aber heißt nun "Ah Ling", nicht wie zuvor "Li Hung". Dafür hat nun erstmals der Täter einen Namen, aber nicht "Paddy O'Rourke", sondern "Jim Anderson", ein "rothaariger Eisenbahnangestellter"; wenn man das rothaarig breit (und nach Klischee) deutet könnte man nun sagen, dass hier erstmals zumindest andeutungsweise von einem Iren die Rede wäre. Dafür wird der Urteilsspruch von Roy Bean besonders bunt beschrieben und mit einer wilden Anhäufung von rassistischen Bezeichnungen von nicht nur Chinesen, sondern auch Afroamerikanern und Mexikanern garniert. Das es kein Gesetz gegen das Töten von Chinesen gäbe ist auch nur Teil der Anekdote, laut Bean definiere das Gesetz nur "drei Arten von Menschen: Weiße Männer, N***r und Mexikaner!"


Roy Bean, who was the Law west of the Pecos
Roy Bean, who was the Law west of the Pecos 16 Sep 1900, Sun St. Louis Post-Dispatch (St. Louis, Missouri) Newspapers.comMan könnte diese Anekdote und ihre verschiedenen Varianten wahrscheinlich noch endlos weiterführen. Zum Abschluss ist hier noch einmal ein Beispiel aus dem Jahr 1900, drei Jahre vor Roy Beans Tod, wo die Erzählung endgültig einen legendären, wenn nicht sogar mythologischen Status angenommen hat. Hier wird die Geschichte nochmal explizit nach Vinegaroon gelegt, also in die ersten beiden Jahre von Roy Beans Richtertätigkeit; aber er wird als "The Law West of the Pecos" bezeichnet, obwohl er sich selbst erst danach so beschrieben hat. Wieder ist die Nationalität des Täters nicht näher benannt, aber diesmal soll es ein Glücksspieler gewesen sein, kein Eisenbahnangestellter. Das Opfer hat mit "Ah Foo" dagegen erneut einen neuen Namen verliehen bekommen. Und auch hier erhält der ursprüngliche Richterspruch, es gäbe kein Gesetz gegen das Töten eines "Chinamanns", leider noch weitere rassistische Ausschmückungen, die die Zeitungen 10 oder 20 Jahre zuvor noch komplett unterlassen haben (wobei "Mr. Ah Foo hatte Unglück - er hätte in seinem eigenen Land bleiben sollen" oder das die Verfahrenskosten vom Kaiser von China zu tragen seien noch die harmlosesten Ergänzungen sind) - was wohl leider mehr mit den Sensibilitäten und der zunehmenden Abneigung gegen chinesische Einwanderer in diesen Jahren zusammenhängen mag als mit dem Charakter eines Roy Bean selbst. Auch solche Entwicklungen lassen sich an Zeitungsartikeln auf diese Weise gut herauslesen, wenn auch nicht unbedingt nachvollziehen.

Donnerstag, 11. April 2024

"They might go to hell - I will go to Texas!"

 Davy Crockett gilt neben James Bowie und Colonel William Travis zu den großen, bekannten Volkshelden, die in der Schlacht von Alamo ihr Leben ließen. Ein Spruch Crocketts wird in diesem Zusammenhang gerne zitiert: Als er bei den Wahlen von 1835 sein Mandat als Abgeordneter des Bundestaats Tennessee knapp verloren haben, soll er über seine untreu gewordenen Wähler gesagt haben "They can go to hell - I will go to Texas". 

In dieser oder ähnlicher Form wurde der nach seinem Tod zum Volkshelden und Märtyrer der texanischen Revolution deklarierte Politiker immer und immer wieder zitiert. Mal soll er diesen Ausspruch im Wahlkampf als "Versprechen" an seine Wählerschaft und/oder Freunde geäußert haben - mal in Enttäuschung darüber, die Wahl so knapp verloren zu haben.

Das hier gezeigte Beispiel ist einer der frühesten Beiträge, die jenes Zitat erwähnen, den ich bislang finden konnte. Erschienen ist es am 9. April 1836 im "Niles' Weekly Register", einem bundesweit erscheinendem Wochenblatt aus Baltimore (Maryland) - interessanterweise etwa einem Monat, NACHDEM Crockett und seine Mitstreiter in der Schlacht von Alamo gefallen waren.

Ringtailedpanther, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

"Ein Gentleman aus Nagacdoches in Texas berichtet uns, dass er dort mit Colonel Crockett, der gerade aus Tennessee eingetroffen war, öffentlich zu Abend gegessen hat. Der alte Bärenjäger hielt, nachdem ihm ein Toast ausgesprochen worden war, eine Rede an die Texaner, die mit seinem üblichen trockenen Humor gespickt war. 

Sie begann ungefähr so: "Man sagt mir, meine Herren, wenn ein Fremder wie ich bei Ihnen eintrifft, fragt man als erstes: Was hat Sie hierher geführt? Um Ihre Neugier zu befriedigen, werde ich Ihnen alles über mich erzählen. Ich war einige Jahre lang Mitglied des Kongresses. In meinem letzten Wahlkampf sagte ich den Menschen in meinem Distrikt, wenn sie es für richtig hielten, mich wiederzuwählen, würde ich ihnen genauso treu dienen, wie ich es getan habe; wenn aber nicht, könnten sie zur H--- fahren, und ich würde nach Texas gehen. Ich wurde geschlagen, meine Herren, und hier bin ich nun.' Der tosende Beifall war wie ein Donnerschlag. (Louisville Journal)"

Nachrichten aus dem Wilden Westen

 Hier ist Sibi vom Podcast "Western Unchained".

Wer unseren Podcast – Legenden, Geschichten und Mythen aus dem Wilden Westen – schon einmal gehört hat, weiß, dass ich für unsere Episoden gerne aus Zeitungsartikeln zitiere, die in der Zeit und den Regionen des sogenannten "Wilden Westens" entstanden sind.

Doch neben den mittlerweile Dutzenden an Kurznachrichten, Kommentaren und Headlinern, die in unserem Podcast schon vorgelesen wurden, gibt es zahlreiche weitere spannende Beispiele, die aus dem einen oder anderen Grund bislang keinen Platz in einer regulären Folge gefunden haben: Anzeigenmotive, die zum Staunen oder Schmunzeln einladen; Meldungen, die heute alltägliche Dinge als absolute Neuigkeiten präsentieren; oder auch kurze Randnotizen, die in meinen Augen einen schönen Eindruck von der Zeit vermitteln: was war aktuell, was hat die Leute interessiert, worüber wurde geredet?

Dieser Blog soll diesen Meldungen einen Raum geben. Willkommen bei den authentischen, originalgetreuen "Nachrichten aus dem Wilden Westen"!

20. November 1903: Tom Horn wird gehängt

 Tom Horn hatte ein überaus bewegtes Leben hinter sich: Mit 14 verließ er das Elternhaus in Missouri, um sich zunächst als Kutscher in Kansa...