Freitag, 12. April 2024

"I'll be d*mned if I could find a law against killing a Chinaman!"

 Judge Roy Bean war ein sehr illustrer und weit über die Regionen seiner Tätigkeit bekannter - wenn nicht sogar berüchtigter - Friedensrichter. Wie wir bereits in unserer Podcast-Folge zu Judge Roy Bean ausgeführt haben, wurde der Mann, der "das Gesetz westlich des Pecos" vertrat, in den etwa 20 Jahren seine Wirkens im ganzen Land bekannt für seine eigenwillige Auslegung des Gesetzes, seine blitzschnellen Verhandlungen und seine oft bizarr anmutenden Urteilssprüche.

Eine der bekanntesten Anekdoten zu Roy Bean handelt von einem ermordeten Chinesen. Der Täter - in den meisten Versionen der Geschichte als ein irischer Arbeiter einer Eisenbahn identifiziert - landete bei Roy Bean vor Gericht. Roy Bean konsultierte sein Gesetzbuch und setzte schließlich den Täter auf freien Fuß; er könne keine Stelle im Gesetzbuch finden wonach es verboten sei, einen Chinesen zu töten.

Auch im englischsprachigen Wikipedia-Beitrag zu Roy Bean taucht diese Anekdote auf - allerdings um zahlreiche Details ausgeschmückt und erweitert. So wird der Täter nicht nur als irisch identifiziert, sondern erhält auch noch einen Namen (Paddy O'Rourke); und er soll 200 Gefährten dabei gehabt haben, die Roy Bean androhten in zu lynchen, wenn ihr Kumpel nicht freigelassen werden würde, was der Grund für Roy Bean's schnelles Urteil gewesen sein soll. Im Podcast drückte ich meine Zweifel darüber aus, dass diese Version der Geschichte stimmen könnte. Zum einen waren hierfür mehrere Quellen angegeben, die aber entweder als unzuverlässig galten oder die Details nicht bestätigten. Und die einzige alte Zeitung, die als Quelle aufgeführt war, lieferte sogar widersprüchliche Angaben. Tatsächlich konnte ich die Geschichte in wirklich Dutzenden Zeitungen finden, die verschiedene Erzählungen des "Chinesen-Mordes" widergaben - und in keiner einzigen Version tauchte der Name "Paddy O'Rourke" oder die Präsenz von 200 Iren auf. Was nicht heißen soll, dass die Geschichte nicht damals bereits diverse Mutationen durchgemacht hat. Anhand der Beiträge lässt sich schön sehen, wie aus einer kurzen Randbemerkung im Laufe der Jahre ein Mythos mit fast epischen Zügen erwachsen kann...

Quelle: Texas Digital Newspaper Program in The Portal to Texas History. University of North Texas Libraries. accessed April 12, 2024

Die früheste Erwähnung die ich finden konnte - was nicht heißen soll das es die erste war, nur die älteste von der ich aktuell weiß - stammt vom 2. Juni 1884, nur knapp zwei Jahre nach Bean's Berufung zum Friedensrichter. Der Beitrag in der Zeitung El Paso Daily Times ist nur eine zehnzeilige Randnotiz über "das neueste von Roy Bean"; zu diesem Zeitpunkt waren Leser der Zeitung offenbar bereits daran gewohnt, immer wieder neue Kuriositäten von ihm zu hören. Die Nachricht enthält kaum Details - jemand habe "einen Chinamann getötet" (noch nicht einmal die Eisenbahn wird hier erwähnt), aber der Urteilsspruch ist bereits der bekannte: Nachdem er zwei oder drei "zerfallende Gesetzesbücher von vorn bis hinten durchgeblättert" habe, ließ er den Täter frei mit den Worten, er wolle verdammt sein wenn er irgendein Gesetz finden könne das es verbiete, einen "Chinamann" zu töten.

Das sollte aber nicht das Ende der Geschichte sein, denn je weiter wir uns von dem ersten Vorfall entfernen, umso detailreicher - und bunter - werden die Schilderungen...

A version of the Roy Bean story about the murdered Chinaman
A version of the Roy Bean story about the murdered Chinaman 01 Nov 1887, Tue The San Francisco Examiner (San Francisco, California) Newspapers.comAm 1.11.1887 druckte der "San Francisco Examiner" ebenfalls eine Variante der Geschichte ab; wobei es sich hierbei angeblich um eine Übernahme aus einer Londoner Zeitung (London Spectator) handelt. Unter der Überschrift "Western Life - How a Cowboy Justice of the Peace Administered the Law" werden aus der Perspektive eines - mutmaßlich englischen - Reporters bereits mehrere Anekdoten über Roy Bean zusammengefasst, darunter auch die erwähnte Geschichte. Interessanterweise taucht hier erstmals das Gerücht auf, Roy Bean könne nicht (gut) schreiben. Das Detail über die Eisenbahn oder einem mutmaßlich irischen Täter fehlt noch immer. Dafür hat das chinesische Opfer hier einen Namen - "Li Hung". Als Roy Bean diesen hört, lässt er den Täter frei mit der Begründung, man könne in Gesetzbüchern nichts über das Töten von Chinesen finden. Interessanterweise muss er hier nicht einmal in den Büchern blättern...

Quelle: Texas Digital Newspaper Program in The Portal to Texas History. University of North Texas Libraries. accessed April 12, 2024
Hier ist eine andere Variante der Geschichte, gefunden im Halletsville Herald (Texas) vom 25.2.1891. In dieser Version der Geschichte wird zwar die Eisenbahn erwähnt, aber nur in der Form, dass der Vorfall sich kurz nach deren Eintreffen in der Gegend ereignete. Der Täter trägt noch immer keinen Namen (oder Nationalität), das Opfer hat ebenfalls den Namen verloren, dafür gibt es nun einen Tatort: Jemand habe den "Chinamann" IN Roy Bean's Saloon getötet!

Roy Bean's Law
Roy Bean's Law 28 Aug 1897, Sat El Paso Herald (El Paso, Texas) Newspapers.com

Am 28. August 1897 - 15 Jahre nach Roy Beans erster Berufung zum Friedensrichter, und 13 Jahre nach der ersten von uns gefundenen Erwähnung der Geschichte - fasste der El Paso Herald (nicht zu verwechseln mit der vormals erwähnten El Paso Daily Times) zahlreiche Anekdoten von und über Roy Bean in einem langen Artikel zusammen, darunter auch diese Geschichte. Demnach habe der Chinese einen Vormann der Eisenbahn attackiert, worauf dieser den Mann erschossen habe. Der Vormann wurde zu Roy Bean zur Anhörung gebracht, und 100 Eisenbahnarbeiter kamen ebenfalls in den Saloon. Roy Bean, der ein gutes Geschäft witterte, zögerte die Anhörung auf den nächsten Tag hinaus, ehe er dann den schnellen Urteilsspruch lieferte. Immer noch werden keinerlei Namen genannt, und auch von einem Iren ist keine Rede, aber eine Menge von 100 Eisenbahnarbeitern ist erwähnt (aber nicht 200 wütende, lynchfreudige Kerle). Nach allem, was ich so über Roy Bean erfahren habe, halte ich diese Schilderung noch am plausibelsten - Roy Bean wirkt in anderen Schilderungen nicht wie jemand der sich leicht einschüchtern ließ, aber an 100 Eisenbahnarbeiter so viele Getränke wie möglich auszuschenken passt sehr zu den sonst so üblichen Geschichten über ihn...

Quelle: Texas Digital Newspaper Program in The Portal to Texas History. University of North Texas Libraries. accessed April 12, 2024

Hier ist noch eine interessante Variante der Geschichte, ebenfalls aus dem Jahr 1897 (3.11.1897 um genau zu sein), aus der Galveston Tribune (Texas), wohl übernommen aus einem Leserbrief an den Chigaco Times-Herald. Der Erzähler schildert, dass er in seiner Zeit bei der Eisenbahn von einem anderen chinesischen Eisenarbeiter angegriffen wurde, und ein Depotangestellter der Eisenbahn diesen daraufhin erschoss. Sie gingen zum zuständigen Richter - Roy Bean - der Ihnen darlegte, dass das schon MINDESTENS DAS ZWEITE MAL sei, dass er über so etwas geurteilt habe, und das es eben kein Gesetz hinsichtlich des Tötens eines Chinesen gäbe. Interessant ist hier vor allem ein weiteres Detail, das ich sonst nirgendwo gefunden habe: Roy Bean habe den ersten Täter freigesprochen, aber zu einer Strafe von 10 Gallonen Schnaps verdonnert - weil er mehr als einmal schießen musste!

Quelle: Texas Digital Newspaper Program in The Portal to Texas History. University of North Texas Libraries. accessed April 12, 2024

Im "Stephenville Empire" vom 7. Dezember 1899 wird die Schilderung noch einmal so richtig bunt. Das chinesische Mordopfer hat nun wieder einen Namen, aber heißt nun "Ah Ling", nicht wie zuvor "Li Hung". Dafür hat nun erstmals der Täter einen Namen, aber nicht "Paddy O'Rourke", sondern "Jim Anderson", ein "rothaariger Eisenbahnangestellter"; wenn man das rothaarig breit (und nach Klischee) deutet könnte man nun sagen, dass hier erstmals zumindest andeutungsweise von einem Iren die Rede wäre. Dafür wird der Urteilsspruch von Roy Bean besonders bunt beschrieben und mit einer wilden Anhäufung von rassistischen Bezeichnungen von nicht nur Chinesen, sondern auch Afroamerikanern und Mexikanern garniert. Das es kein Gesetz gegen das Töten von Chinesen gäbe ist auch nur Teil der Anekdote, laut Bean definiere das Gesetz nur "drei Arten von Menschen: Weiße Männer, N***r und Mexikaner!"


Roy Bean, who was the Law west of the Pecos
Roy Bean, who was the Law west of the Pecos 16 Sep 1900, Sun St. Louis Post-Dispatch (St. Louis, Missouri) Newspapers.comMan könnte diese Anekdote und ihre verschiedenen Varianten wahrscheinlich noch endlos weiterführen. Zum Abschluss ist hier noch einmal ein Beispiel aus dem Jahr 1900, drei Jahre vor Roy Beans Tod, wo die Erzählung endgültig einen legendären, wenn nicht sogar mythologischen Status angenommen hat. Hier wird die Geschichte nochmal explizit nach Vinegaroon gelegt, also in die ersten beiden Jahre von Roy Beans Richtertätigkeit; aber er wird als "The Law West of the Pecos" bezeichnet, obwohl er sich selbst erst danach so beschrieben hat. Wieder ist die Nationalität des Täters nicht näher benannt, aber diesmal soll es ein Glücksspieler gewesen sein, kein Eisenbahnangestellter. Das Opfer hat mit "Ah Foo" dagegen erneut einen neuen Namen verliehen bekommen. Und auch hier erhält der ursprüngliche Richterspruch, es gäbe kein Gesetz gegen das Töten eines "Chinamanns", leider noch weitere rassistische Ausschmückungen, die die Zeitungen 10 oder 20 Jahre zuvor noch komplett unterlassen haben (wobei "Mr. Ah Foo hatte Unglück - er hätte in seinem eigenen Land bleiben sollen" oder das die Verfahrenskosten vom Kaiser von China zu tragen seien noch die harmlosesten Ergänzungen sind) - was wohl leider mehr mit den Sensibilitäten und der zunehmenden Abneigung gegen chinesische Einwanderer in diesen Jahren zusammenhängen mag als mit dem Charakter eines Roy Bean selbst. Auch solche Entwicklungen lassen sich an Zeitungsartikeln auf diese Weise gut herauslesen, wenn auch nicht unbedingt nachvollziehen.

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